Junge WählerInnen und Social Media: Gedanken zur strategischen Ansprache

Zur Bundestagswahl 2021 sind rund 2.880.000 junge Menschen aufgerufen, das erste Mal ihre Stimme bei einer Bundestagswahl abzugeben. Wie viele ErstwählerInnen von ihrem Recht am 24. Oktober 2021 tatsächlich Gebrauch machen, ist angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse im Sechs-Fraktionen-System eine strategisch relevante Frage. Zur Erinnerung: Bei der Landtagswahl in Hessen 2018 entschieden 66 Stimmen über das Mandat, was der schwarz-grünen Regierungskoalition die Mehrheit sicherte (Vgl. DER SPIEGEL 2018). Grund genug also, einmal genauer hinzuschauen, was Erst- und JungwählerInnen mobilisiert und welche Rolle soziale Medien dabei spielen können.

Erst- und JungwählerInnen, Parteien und Kampagnen – it’s complicated

Ob und in welchem Ausmaß Parteien Erst- und JungwählerInnen dezidiert ansprechen und mobilisieren, ist pauschal kaum zu beantworten. Erstens unterscheidet sich der Zugang zur jungen Zielgruppe bereits grundlegend entsprechend des politischen Profils: Parteien des bürgerlich-konservativen Lagers haben hier traditionell größere Schwierigkeiten, als Parteien des progressiv-linken Lagers. Einzig die FDP hatte bei der Bundestagswahl 2017 zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen kaum Varianz (Vgl. Der Bundeswahlleiter 2018, 6).

Zweitens greifen bei Jung- und ErstwähleInnen altersbedingte Effekte, wonach Wahlmotivation und Altersstruktur in einem stabilen Verhältnis zueinanderstehen: Das Start-Up-Slow-Down-Model beschreibt für junge Menschen den Akt der Wahl zunächst als etwas attraktives, Neues. Der Reiz, erstmalig die Stimme abzugeben hebt unter ErstwählerInnen (18 bis 20 Jahre) die Wahlbeteiligung an. Dieser Effekt ist jedoch kurzlebig: JungwählerInnen zwischen 21 und 25 Jahren weisen die niedrigste Wahlbeteiligung auf, erst mit zunehmendem Alter steigt die Wahlbeteiligung erneut an (Vgl. Falter/Schoen 2014, 881).

Die Aufwertung potentieller Stimmen in klar umrissenen Zielgruppen

Das strategische Zusammenspiel von Aufwand und Nutzen bei der Erst- und Jungwähleransprache steht drittens folglich in einem schwierig zu beschreibendem Verhältnis. Die Varianz über Wahlmotivation und Absicht innerhalb der jungen Zielgruppe wurde bisher ergänzt von einem relativ geringen Gewicht der potentiell zu gewinnenden Stimmen. Im Sechs-Fraktionen-System und seinen knappen Mehrheitsverhältnissen hingegen steigt der relative Wert des absoluten Anteils an Erst- und Jungwählerstimmen. Die Gruppe der ErstwählerInnen erfährt somit eine Aufwertung, als dass die Ansprache und Mobilisierung junger Wähler erstmalig zu messbaren Verschiebungen im Zweitstimmenanteil und damit der Sitzverteilung führen kann (und wird). Spätestens zur Bundestagswahl 2021, aber auch bereits zur kommenden Europawahl und den anstehenden Landtagswahlen in Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen ist folglich mit einer sichtbaren Ansprache der jungen Zielgruppe durch Parteien und PolitkerInnen zu rechnen. Das strategische Rational dahinter ist simpel: Selbst, wenn beispielsweise zur kommenden Bundestagswahl nur 25% der ErstwählerInnen mobilisiert werden können, entspräche dies einem absoluten Stimmenzuwachs von 740.000 abgegebenen Stimmen.[1]

Für zukünftige Wahlen ist die Gruppe der Erst- und Jungwähler somit vor allem eines: Ein klar beschriebenes Stimmenreservoir. Die Vorzüge der strategischen Erstwähleransprache sind dabei in der klaren, soziodemographischen Situation der Zielgruppe und den damit verbundenen Grundannahmen zu sehen: Die Varianz hinsichtlich Lebenssituation, monatlichem Einkommen, Bildungsabschnitt- und Abschluss, sowie Medienkonsum- und Rezeptionsverhalten dürfte deutlich geringer ausfallen, als in älteren Wählerschichten.

Mobilisierungspotentiale nutzen mit Social Media?

Soziale Medien spielen bei der Mobilisierung eine zentrale Rolle. Laut ARD/ZDF- Onlinestudie nutzen 48% der 14 – 19-jährigen täglich Instagram, 44% geben an, Snapchat täglich zu nutzen (Frees/Koch 2018, 410). Dass dies eine Präsenz von Parteien und PolitikerInnen in den bevorzugten Medien der jungen Zielgruppe erfordert oder wenigstens nahelegt, ist selbstredend. Nicht aber, wie diese Kanäle für die politische Kommunikation und die Mobilisierung genutzt werden können, und welche Folgen eine Verschiebung politischer Kommunikation von der Fläche auf tragbare Endgeräte haben kann: 86% der unter 30-jährigen nutzen täglich ein Smartphone, „die Bedeutung, die das Fernsehgerät für die Gesamtbevölkerung hat, nimmt bei den 14- bis 29-jährigen das Smartphone ein.“ (Frees/Koch 2018, 410) Wie sich das veränderte Rezeptionsverhalten auf (Wahl)-Entscheidungen und die politische Sozialisation junger Menschen auswirkt, ist noch nicht abzusehen und Teil meiner derzeitigen Forschung. Ein kurzer Abriss:

Emotionale Ansprache, affektives Verhalten

Studien aus der Verhaltensökonomie, der Psychologie und auch der Wahlforschung legen nahe, dass unter Einfluss medialer Reize der Zugang zu politischen Themen erleichtert wird. Lau & Redlawks (2001) konnten zeigen, dass WählerInnen in komplexen Situationen gefühlsgeleitet entscheiden. Soziale Medien scheinen dabei besonders gut dazu geeignet zu sein, affektive Bindungen zu triggern, indem sie die emotionalen Grundlagen von Wählerurteilen beeinflussen (Robertson 2018). Durch eine emotionale, visuelle Ansprache können kognitive Anker gesetzt werden, die insbesondere politisch kaum gebildete Menschen bzw. Menschen mit geringem Interesse an Politik den Zugang zu PolitikerInnen und deren Themen ebenen können. Der Akt des Wählens wie auch die vorgelagerte Entscheidungsfindung verschiebt sich dabei theoretisch von einem deliberativen Akt zu einer eher subjektiv gesteuerten, affektiven Reaktion (Vgl. Hügelmann 2019, 37-39). Letzteres ist demokratietheoretisch nicht unproblematisch, da angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse die theoretische Möglichkeit besteht, durch die gezielte Mobilisierung relativ kleiner Gruppen den Ausgang von Wahlen gezielt zu beeinflussen.

Fazit?

Ungeachtet dessen gehört die emotionale Ansprache in Social Media und die Nutzung niedrigschwelliger Formate zur Vermittlung politischer Botschaften inzwischen fest zum Repertoire von Kampagnen.  Meine Studie über die Instagram-Nutzung deutscher SpitzenpolitkerInnen zur Bundestagswahl 2017 konnte zeigen, dass Interaktionen mit politischen Profilen auf Instagram dann besonders hoch waren, wenn der jeweilige Post selbst eine politische Komponente aufwies. Dies lässt Rückschlüsse darüber zu, wer auf Instagram PolitikerInnen folgt und wie sich der Kanal dementsprechend in eine Crossmediale Kampagnenstrategie zur Mobilisierung junger WählerInnen einbetten lässt (Vgl. Hügelmann 2017, Hügelmann 2019).

Viralität und social metrics ersetzen dabei keine politische Basisarbeit, sie steigern jedoch die Wahrscheinlichkeit einer zielführenden WählerInnen-Ansprache. Für eine demokratische Öffentlichkeit bedeutet dies Chance und Herausforderung zugleich. Chancen, als dass Social Media den Zugang zu politischen Themen erleichtern kann. Herausforderung, weil die Vermischung von politischen und unpolitischen Botschaften durch Akteure in den sozialen Medien das Erkennen von Fehlinformation, Wahlbeeinflussung und Steuerung komplexer und schnelllebiger machen. 

Verweise:

Der Bundeswahlleiter (2018). Pressekonferenz „Repräsentative Wahlstatistik zur Bundestagswahl 2017“ am 26. Januar 2018 in Berlin, in: https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/9d64fb87-0d12-478b-88ed-df4b6ad0e2a1/btw17_rws_pk_statement.pdf

DER SPIEGEL (2018). Grüne doch zweitstärkste Kraft in Hessen, in: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/hessen-gruene-bleiben-auf-platz-2-66-stimmen-vorsprung-auf-spd-a-1238765.html

Falter, J., Schoen, H. (2014). Glossar. In Falter, J., Schoen, H. (Hrsg.) Handbuch Wahlforschung 2. Auflage (S. 881). Wiesbaden: Springer VS.

Frees, B., Koch, W. (2018). ARD/ZDF-Onlinestudie 2018: Zuwachs bei medialer Internetnutzung und Kommunikation Ergebnisse aus der Studienreihe „Medien und ihr Publikum“ (MiP). In Media Perspektiven 9/2018 (S. 398-413).

Hügelmann, B. (2017). Zusammenhang Anzahl Posts/Wachstum, in: https://politicalinfluencers.de/2017/09/08/zusammenhang-anzahl-posts-wachstum/

Hügelmann, B. (2019). Political Influencers? How the usage of Instagram within political campaigns could affect decision-making and alter the outcome of elections. In M. Kretzler, E. Okon, L. Roßmannek & C. L. Simon (Hrsg.). Facetten Politischer Kommunikation: Von Campaigning und Public Affairs Management zu Deliberation und Fragmentierung (S. 21-43). Aachen: Shaker Verlag.

Lau, R., Redlawsk, D. (2001). Advantages and Disadvantages of Cognitive Heuristics in Political Decision Making. In: American Journal of Political Science, Vol. 45, No. 4 (Oct., 2001). pp. 951-971.

Robertson, J. (2018). Prospect Theory, Loss Aversion, and the Impact of Social Media and Online Activity: Political Affect and the 2016 American Presidential Elections. In M. Oswald & M. Johann (Eds.), Strategische Politische Kommunikation im digitalen Wandel (pp. 63–95). Wiesbaden: Springer Nature.


[1] Gemessen an den Zahlen der BTW 2017 entspräche dies 1,53% der abgegebenen Stimmen.

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